Streifenkelims
Genuine Teppichkunst der Ghashgai- und Luri-Stämme aus Südwestiran
Streifendekorierte Kelims wurden von nomadisierenden Völkern in allen zentral-, west- und südwest-asiatischen Ländern hergestellt. Ihre Inhalte reichen von schlichten, einfachen Streifen- und Farbkompositionen bis hin zu vielschichtigen, komplizierten Rapportsystemen.
Eine Besonderheit sind die Streifenkelims der südwestiranischen Ghashgai-Stämme und Luri-Stämme.
Kühne, spannungsgeladene Flächenbilder mit überraschenden Kombinationen an Formen und Farben und oftmals extrem asymmetrischen Streifenschichtungen und expressiven Farben, fertigten diese Stämme über Jahrhunderten hinweg. Sie webten diese Kelims über viele Generationen immer wieder mit neuer Kreativität.
Zur Herstellung der Streifenkelims verwendeten sie vorwiegend Schafwolle, begrenzt auch Baumwolle und Ziegenhaar. Zur Farbgestaltung dienten ihnen ungefärbte Naturgarne und Pflanzen-, Mineral- und auch synthetische Farbstoffe, soweit sie zur Ausdrucksstärke beitrugen. Selbst fremdartige Materialien wie Metallfäden, Neonfäden und gar Stofffetzen fanden Verwendung, wenn sie zur Kreativität und der nicht zu unterschätzenden Mystik beitrugen. Schließlich nahmen Mystik und Spiritualität in der schamanistisch geprägten Geisteswelt dieser Nomaden-Stämme einen breiten Raum ein.
Zur Darstellung ihrer von der Natur beherrschten Lebensräume und Lebensumstände entwickelten sie im Laufe der Zeit eine abstrakte Formensprache, die es Ihnen möglich machte, ihre reale Welt, ihr wirtschaftliches Wohlergehen, ihre Bedürftigkeiten, Leben, Tod, Kosmos und Übersinnliches als Flächenbilder in ihre Teppiche und Kelims zu übertragen. Reale Inhalte wurden abstrahiert, ließen aber in ihrer Gestaltung, wie bei einer persönlichen Handschrift, vielfältigen Interpretationen Raum.
Zum Beispiel stellten sie in ihren Streifenkelims ihre wechselnden Landschaften und Jahreszeiten dar. Nahezu "webmalerisch modellierten" sie asymmetrische spannungsvolle Streifenbilder, in denen sie die in der Horizontalen sich stets verändernden Landschaften in komprimierten Formen widerspiegelten. Die Abstrahierung und Komprimierung des Motives ließ, je nach Mentalität der Weberin, kühne, dem Expressionismus gleiche Streifenbilder enstehen. Parallel enstanden auch völlig symmetrische Streifenkelims, die in letzter Konsequenz nur noch schwarze und weiße Streifen aufweisen konnten. Selbst das Weglassen streifenbildender Farbwechsel, also einen Kelim zu weben mit monochromer Fläche, bei dem eine Grundfarbe mit mehr oder weniger starken Schattierungen (sogenannte Abrasche) die Fläche füllt, war möglich. Im Umfeld ihrer Hersteller wurden sie alle als Piktogramm für Landschaft verstanden.
Da der Inhalt von allen verstanden wurde, konnte sich die Weberin für ein gut gelungenes Stück, ob es sich nun durch starke Expressivität, Symmetrie, besondere Farbspiele, oder durch stringente Reduzierung auszeichnete, der Anerkennung ihres Stammes sicher sein.
Durch meine jahrzehntelange Beschäftigung mit diesem Thema begreife ich die Streifenkelims der Luren und Ghashgai als schöpferische Leistung mit künstlerischem Anspruch; sie selbst sagen "Das ist unsere Kunst". Wie in allen Kulturen ist die künstlerische Leistung im Einzelnen unterschiedlich. Ein Streifenkelim, der oftmals über einen längeren Zeitraum entstand, in welchen die nomadische Weberin in ihren wechselnden Lebensräumen unterschiedlichen Einflüssen und Emotionen ausgesetzt war, ist immer auch ein Dokument ihrer erlebten und gelebten Gegenwart.
Mich versetzt ein neu entdecktes Stück immer wieder in großes Staunen.
Vergleichbare Bemühungen, um Räume und Landschaften in flächigen Streifenbildern zu abstrahieren, finden wir nach dem 1. Viertel des 20. Jhdt. auch in der modernen Kunst.
Jan Schoonhoven (1917-1994) malte asymmetrische Streifenbilder, die den, in den Ghashgai-Zelten entstandenen Kelims, zum Verwechseln ähnlich sehen. Ein charakteristisches Beispiel dafür ist ein Bild von ihm, das unter dem Titel „Weiß bemaltes Relief“ von 1981 bei Sotheby’s in Amsterdam, Juni 2001, zur Auktion gelangte und das bei vergleichender Objektbetrachtung mit den asymmetrischen Kelims der Ghashgai von denen nicht zu unterscheiden ist.
Unter den Bildern von Fritz Winter (1905 1976) finden sich in der Gruppe seiner abstrakten Reihen- und Rechteckbilder ebenfalls viele Arbeiten, in denen er den direkten Bezug zu Raum und Natur durch den Titel mitteilt, und die meiner Meinung nach ebenfalls eine künstlerische Geistesverwandtschaft mit den abstrakten Kelims der genannten Nomaden widerspiegeln. Ein gutes Beispiel dafür ist sein Bild „Weite Horizontalen“, das in der ihm gewidmeten Ausstellung in der Pinakothek der Moderne, in München Nov. 2015 - Feb. 2016 zu sehen war.
Bevor die moderne Kunst unser Kunstverständnis veränderte, waren die asymmetrischen Kelims der südwestiranischen Ghashgai- und Luri-Stämme für uns als abstrahierte Landschaftbilder und in ihrer künstlerischen Qualität nicht zu erkennen.
Ich erinnere mich noch gut an die oftmals unverständlichen Blicke und Äußerungen, mit denen bis in die späten 80er Jahre hinein diesen Kelims begegnet wurde. Mit dem Wissen um die Inhalte dieser Kelims wird die Betrachtung eines jeden Stückes zu einem Entdeckungserlebnis.
Die Nomaden der Ghashgai-Stämme und der Luri-Stämme sind die Expressionisten unter den orientalischen Teppichwebern.
Moderne Künstlerinnen und Künstler haben mir gegenüber immer wieder geäußert:
„Das sind Teppiche, mit denen wir leben können.“
Cornelius W. Bäumer
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